Der Minotaurus ist ein mythisches Mischwesen. Zur Vorgeschichte heißt es, dass der König von Kreta, Minos, sein Versprechen brach, Poseidon einen schönen Stier zu opfern. Poseidon rächte sich, indem er in Pasiphae, der Frau des Königs, das Verlangen weckte, sich mit dem Stier zu paaren. Dädalus baute zu diesem Zweck Pasiphae ein hölzernes mit einer Kuhhaut getarntes Gestell, in dem sie sich vom Stier begatten ließ und ein Geschöpf mit einem Stierkopf und dem Körper eines Menschen gebar.
König Minos wollte die Kreatur töten, ließ sich dann aber von seiner Tochter Ariadne überreden, das Wesen leben zu lassen. Der Minotaurus erwies sich jedoch als menschenfressende Bestie. Um sich und sein Königreich zu schützen, ließ sich König Minos von Dädalus ein Labyrinth bauen, in dem er das Ungeheuer gefangen hielt und ihm Menschenopfer darbrachte.
Der Mythos erweckt den Eindruck, der Minotaurus sei von Anfang an ein Monster gewesen. Warum dem so war, bleibt unbeantwortet. Es scheint so, als ob ein solches Mischwesen zwangsläufig monströs sein müsste. Alleine die Tatsache, das ein Stier wild und kräftig ist und für Menschen insbesondere dann gefährlich werden kann, wenn er gereizt wird, macht jedoch ein Mischwesen, halb Mensch, halb Stier, noch nicht zum Monster. Erst recht nicht zum menschenfressenden Ungeheuer. Zumal Stiere gar keine Fleischfresser sind und sich ausschließlich von Pflanzen ernähren. Um das Fleisch beißen und zerkauen zu können, hätte der Minotaurus andere Zähne eines als die eines Stiers benötigt. Es liegt also nahe, dass der Anteil des Menschen, der alles, eben auch Fleisch isst, maßgeblich für die Gefährlichkeit des Mischwesens verantwortlich gewesen sein musste.
Dessen ungeachtet wird der tierische Anteil im Mischwesen als ursächlich für die wilde und zügellose Gewalt des Minotaurus angesehen. Doch unabhängig von dieser Frage, ist der Mythos mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Projektion der Athener auf die „barbarischen“ Kreter. Denn im Mythos erweisen sich die Athener im Gegensatz zum barbarischen König Kretas als zivilisierte Menschen.
Als König Minos von den Athenern seinen Tribut einfordert, sieben Jungfrauen und sieben Jünglinge zur Opferung zu senden, erklärt sich der attische Königssohn Theseus bereit, sich dem Ungeheuer zu stellen und es zu töten. Mit der Unterstützung von Ariadne gelingt es ihm endlich, den Minotaurus zu töten und Athen vom Tribut zu befreien.
Mit der Befreiung vom Minotaurus scheint für Athen ein neues Zeitalter angebrochen zu sein. Zumindest so gut wie. Denn noch sitzt der Vater von Theseus, Ägeus, auf dem Thron. Doch ein tragisches Missgeschick, ein Versehen oder vielmehr die Vergesslichkeit des Theseus trug zum frühzeitigen Tod des attischen Königs bei.
Der Sieg über den Minotaurus sollte auf dem heimkehrenden Schiff durch das Setzen weißer Segel angezeigt werden. Als Ägeus jedoch schwarz gesetzte Segel sieht, muss er annehmen, dass die Mission seines Sohnes gescheitert ist, und Theseus im Kampf gegen den Minotaurus den Tod gefunden hat. Daraufhin stürzt er sich von den Klippen ins Meer, das fortan das Ägäische genannt wird.
Bis heute finden blutige Stierkämpfe statt, die in der Regel mit dem grausamen Tod der Stiere enden. So viel sei zu unserer heutigen Zivilisiertheit gesagt, die mit der des alten Athen vergleichbar ist. In der minoischen Kultur wurden Stiere wie göttliche Wesen verehrt, und minoische Wandmalereien sprechen dafür, dass ein unblutiger Wettstreit mit Stieren gepflegt wurde. Dabei überwanden Springer einen Stier, in dem sie den Stier an einem der Hörner fassten, so dass dieser aufgrund der Kopfbewegung des Stiers in die Höhe geschleudert wurde und dann mit einem Rückwärtssalto auf dem Rücken des Stiers landete, von wo er über das hintere Teil des Stieres sprang, um wieder auf dem Boden zu landen.
Der Kampf mit dem Minotaurus weist auf eine mythische Interpretation einer Initiation, bei der sich Jungen und Mädchen, wahrscheinlich auch die attischen Geiseln, einem Stier stellen mussten.
Es spricht viel dafür, dass sich Pasiphae als oberste Priesterin oder Mondgöttin bei der „Heiligen Hochzeit“ mit einem Priester paarte, der mit einer Stiermaske versehen, den göttlichen Stier, der zugleich den Sonnengott symbolisierte, vertrat. Dieser Priester galt in der Folge als göttlicher Gemahl der Priesterin und König. Da sich die „Heilige Hochzeit“ jährlich oder nach sieben Jahren wiederholte, erwählte die Priesterin dabei auch einen neuen Gemahl und König, was dann auch den rituellen Tod des alten Königs zur Folge hatte. Daher drängt sich beim Minotaurus-Mythos der Verdacht auf, dass König Minos eine Änderung dieser Praxis herbeiführen wollte und dabei die göttliche Hilfe Poseidons bzw. der patriarchischen Athener in Anspruch nahm, um der matriarchalischen Ordnung ein Ende zu bereiten.
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Sarah (Donnerstag, 02 Juni 2022 16:12)
zu lang
Willi Büsing (Donnerstag, 02 Juni 2022 17:25)
Ich spreche verschiedene Aspekte des Mythos an, die mir wichtig erscheinen. Das muss natürlich nicht jedem gleichermaßen wichtig erscheinen. Das hindert Dich ja nicht daran, das für Dich Wesentliche herauszulesen.