Vorgeschichtliche Erzählungen der Mythologie sind ebenso wahr oder unwahr wie schriftliche Quellen es sind. In Bezug auf den Wahrheitsgehalt ist es einerlei, ob es sich um Mythen oder schriftliche Erzeugnisse handelt. Um der Wahrheit auf den Grund zu gehen, müssen Beide einer quellenkritischen Betrachtung unterzogen werden.
Unser Denken, d.h. das des Europäers ist wesentlich von mündlich tradierten oder schriftlich fixierten Erzählungen geprägt, die zum einen auf der griechisch-römischen Mythologie und zum anderen auf jüdisch-christlicher Literatur basiert. Die christliche Literatur ist wiederum stark von einer griechisch-römischen Mythologie bzw. einem Paganismus beeinflusst, welche sich vom Judentum abzugrenzen bemühte. Mit der Neuzeit und der Aufklärung sind diese Erzählungen in vielfältiger Weise in unser Weltbild integriert worden. Dazu gehören sicherlich auch die Grundlagen westlicher Ethik, zugleich aber auch Geschichten, die die Überlegenheit des Europäers gegenüber anderen Völkern und Kulturen sowie die des Mannes über die Frau erklären. Beispiele dafür sind die Geschichten von Adam und Eva sowie Prometheus/Epimetheus und Pandora.
Am Beispiel von „Die Büchse Pandora“ lässt sich zeigen, dass es sich dabei gewissermaßen um ein Missverständnis handelt. Ein Missverständnis, welches auf dem begrenzten Verstand von Männern beruht, die ein dualistisches Weltbild vertraten, um ihre geistige Begrenztheit hinter Mythen wie die von „Die Büchse der Pandora“ zu verschleiern. Der Dichter Hesiod gilt als erster Erzähler jener Geschichte, wonach Pandora, die Allgeberin, von dem männlichen Gott Hephaistos aus Lehm geformt worden sei, um sie als das „schöne Übel“ in die Welt zu bringen. Hier ist es wie bei der Geschichte mit dem Huhn oder dem Ei und der Frage, was als Erstes da war: das Huhn oder das Ei? Denn die Allgeberin Pandora weist Merkmale einer Schöpfungsgöttin auf, die sowohl alles geben, als auch alles nehmen kann. Durch Hesiod wird sie jedoch auf die Göttin, die Übel und Zerstörung auf die Welt bringt, reduziert. Diese Reduktion ist letztlich der Kern der Schöpfung des männlichen Mythos.
Nun ist es aber unerheblich, ob wir die Schöpfung männlichen oder weiblichen Gottheiten zuschreiben. Denn es gibt zu viele Hinweise darauf, dass unsere Urahnen das Göttliche der Schöpfung als männlich und weiblich gleichermaßen angesehen hatten. So wie für unsere Vorfahren Dichotomien wie männlich vs. weiblich, Natur vs. Kultur vollkommen fremd gewesen waren, hatte die Einheit von Mann und Frau, Mensch und Natur und die Einheit der eigenen Gemeinschaft Vorrang. Von diesem urzeitlichen Denken hingen letztlich auch Erfolg und Überleben der Gruppe ab, in der jede und jeder Einzelne gleich viel Wert besaß.
All das ist heute weitestgehend in Vergessenheit geraten. Empathie, soziales Verhalten und Solidarität sind gegenüber Erfolge und Karrieren Einzelner ins Hintertreffen geraten. Die Folgen zunehmender Naturkatastrophen und Pandemien haben jedoch Alle zu tragen. Aber während wir verächtlich und mit Abscheu auf die Praxis von Menschenopfern alter Kulturen schauen, werden die Menschenopfer, die der heutigen „Zivilisation“ geschuldet sind, gar nicht als solche erkannt. Die Kollateralschäden der heutigen Gesellschaftsordnung werden vielmehr als notwendige Opfer angesehen, die unseren Wohlstand garantieren. Der Mythos eines derartigen „Fortschritts“ ist letztlich der Totengräber unserer menschlichen Gemeinschaft. Die Essenz utopischer Malerei liegt für mich daher in der Überlieferung vom Allgemeinwohl egalitärer Gemeinschaften.
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