Sehen lernen bedeutet vor allem, sich selbst und seinen eigenen Augen (wieder) zu vertrauen. Ich sage wieder, weil das, was wir noch als Kind haben sehen können, von unseren Eltern und anderen Erwachsenen als Phantasien abgetan und verscheucht worden war, bis allmählich die Gewissheit über Gesehenes endgültig verloren ging. Am Ende sehen wir nur noch das, was wir sehen sollen und derart, wie es die Allgemeinheit gelernt hat.
Natürlich hat es auch etwas Beruhigendes, wenn Dämonen der Nacht als harmlose Schattengespinste enttarnt werden konnten und sie damit ihre Macht über uns verloren. Doch allmählich verschwanden nicht nur die Furcht einflößenden Gespenster, sondern alle Geschöpfe einer „kindlichen Phantasiewelt“, für die es in der Realität der Erwachsenen keinen Platz gibt.
Aber es geht auch nicht alleine darum, was Kinder, sondern wie Kinder etwas sehen. Darum ist es im Märchen von „Des Kaisers neue Kleider“ nicht verwunderlich, dass es einzig und allein ein Kind ist, das die Wirklichkeit des Betrugs zu erfassen vermag.
Die Welt ist voller Wunder. Die Gedanken und Gefühle eines Kindes sind mit der Wunderwelt vereint; sie sind noch nicht getrennt von dem, was es sieht. So sieht es, was es denkt und fühlt und denkt und fühlt, was es sieht. Die Phantasie eines Kindes ist die Einheit von innerem und äußerem Erleben. Wir als Erwachsene dagegen lernten, Innen- und Außenwelt zu unterscheiden und verloren dabei zunehmend unsere Phantasie.
Fatal ist, dass dieser Verlust als höhere Entwicklungsstufe deklariert wird und dagegen alles, was mit Phantasie bzw. einer anderen als der normierten Wahrnehmung verbunden ist, als kindisch, rückschrittlich, verrückt oder primitiv deklassiert wird. Hohe Kunst, Hochkultur und höhere Zivilisationsstufen geben Zeugnis von einer Beschränktheit einer Kultur ab, die wir als die Fortgeschrittenste aller Kulturen ansehen.
Zugleich zeigen alle Vereinnahmungen „primitiver Kunst“ oder Kunst geisteskranker Menschen in die Kunst der Moderne den Verlust kindlicher Phantasie. Einzig die Besinnung auf uns selbst – das Kind in uns – lehrt uns (wieder) das Sehen. Dies erfordert allerdings einiges an Mut, den ein Kind, das die Wahrheit auszusprechen vermag, noch nicht verloren hat.
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Rita Pyriki (Samstag, 22 Juni 2019 23:24)
Also als Kind schaute ich schön gerne in den Himmel und sah verschiedene Figuren in den Wolken.Dieses Schauspiel habe ich mir bis jetzt erhalten.Auch auf meiner Norwegen Reise vor 1Wo konnte ich die Trolle in den Bergen erkennen..es ist so schön seiner Fantasie freien Lauf zu lassen.Ich finde es nicht kindisch sondern kreativ.��
Willi Büsing (Samstag, 29 Juni 2019 14:43)
Ich hätte KINDISCH in Anführungszeichen setzen können, da ich natürlich weiß, dass das Wort negativ geprägt ist und auf ein unreifes Verhalten von Erwachsenen abzielt. Aber im Gegensatz zum kind(l)ischen Sehen ist Kreativität etwas, das in der Regel zielorientiert ist. In diesem Sinne geht es mir tatsächlich darum, wieder kindisch zu sein, ohne Voreingenommenheit zu sehen.